Ich glaube nicht, dass es eine Zeit gibt, die das mit fantastischen Elementen verfasste Buch:
„Der begrabene Riese“ von dem 2017 als Nobelpreisträger bekannt gewordenen Kazuo Ishiguro, die es nicht anspricht. Ob die Abwesenheit von „Vergessen“ oder „Erinnern“ besser ist, ist sicherlich schon einmal ein Diskussionspunkt von jedem von uns geworden.
Das Gefühl der Zugehörigkeit – für welch manche sehr wichtig, für andere unwichtig. Die Natur ist schon immer wie ein Ratgeber für den Mensch gewesen. Der Baum, dessen Spitze bis in den Himmel ragt oder die Pflanze, deren Vorhandensein von seinen Wurzeln abhängt sind für einen nachdenkenden Menschen eine bedeutsame Existenz. Wenn ein kleiner Samenkern wächst und aufsteigt sind es die Wurzel, die ihm Leben schenken und zuflüstern, dass er mal einen riesigen Stamm haben wird…
Die Wurzel sind wie eine Erinnerungssammlung, die jeden Augenblick speichern. Sie ernähren sich von der Erde, in der sie zustandekommen, wachsen und an Pracht gewinnen. Sie tragen sozusagen den Code der Erlebnisse. Das Gesehene ist natürlich abhängig vom Betrachter und ist daher unterschiedlich. Diese Werte, die abhängig vom Subjekt immer unterschiedlich sind und sich um die Wahrnehmungen der Erlebnisse bilden, bauen die Welt des Individuums auf. Erinnerungen sind jene Kästchen, über die Zeit vergangen ist und je nach den enthaltenen Gefühlen ihre Plätzchen im Gedächtnis gepriesen bekommen. Sobald die Zeit kommt, werden sie Stück für Stück zum Vorschein gerückt und signalisieren den Wert des Lebens. Jedes Kästchen, das eine Erinnerung trägt, lässt den unendlichen Geschmack und den Duft wie in der Ursituation wiederholt erleben.
Im Gegenteil dazu gibt es auch das „Vergessen“. Die Existenz des Vergessens, löscht das Erlebte nicht aus. Doch wie eine dicke, lichtundurchlässige Decke legt sie sich auf die Erinnerungen. Als würden sie nie erlebt, so zeigt sie sich ihrem Besitzer. Die sowohl schmerzliche, als auch erleichternde Seite dieser Dunkelheit lässt die Zweifel aufwerfen, ob Vergessen oder Erinnern besser ist. „Der begrabene Riese“ befasst sich mit diesen Begriffen mit einer sehr ansprechenden Fiktion.
Wenn Sie das Buch in die Hand nehmen, sehen Sie sich erst einmal den Umfang an und berechnen die benötigte Zeit. Sobald Sie interessiert und gespannt die Seiten durchblättern, ändert sich die berechnete Zeit oftmals (natürlich relativ gesehen). Auch wenn es dick aussieht, wird es dem Inhalt zuliebe mit Gefallen gelesen. Das Buch „Der begrabene Riese“ kann man von dieser Art zählen.
Das Buch spielt im 6. Jahrhundert des englischen Königreichs ab. Eine Zeit, in der König Arthurs Epoche zu Ende ist und schlachtvolle Kriege ihr Verbrechen hinterlassen haben. So schlimm, dass man sich nicht mehr an die Leiden erinnert bzw. es so erscheint. Zwei ursprünglich verfeindete Fronten nun in Friede und Ruhe. Als wäre alles nur ein Traum. Können Leid und Grausamkeit überhaupt vergessen werden? Auf diese Frage verweist das ausgezeichnete Buch mit einer mitreißenden Fiktion. Wie nichts ohne Grund passiert, ist die Quelle dieser Vergessenheit der Nebel. Der sich überall auf der Welt verbreitende Nebel macht sich in den Köpfen sofort breit. Jede noch so kleine Erinnerung, die aus ihrem Gedächtniskästchen hervorkriechen will, wird (mit Absicht oder ohne) gleich wieder hineingeschoben. Daher liegen die Erlebnisse unter diesem Versteck. Nichtsdestotrotz ist alles, was im Körper des Lebewesens verbannt ist, auch wenn es wie verschwommen ist, eigentlich nur erfriert.
In den ersten Seiten des Buches begegnen wir einem alten Paar. Beatrice und Axl nehmen ihren Platz mit ihrer langen Lebensgeschichte und ihren Erfahrungen in unserer Phantasiewelt mithilfe der starken Darstellungskraft des Autors ein. Im Laufe der Geschichte erfährt der Leser, dass das Pärchen Söhne hat. Genauer gesagt ein Sohn, dessen Existenz ab und an erwähnt, aber ansonsten vergessen wird. Jedesmal wenn sie sich an ihren Sohn erinnern, fallen ihnen die jahrelange Trennung, die Unwissenheit über seinen Ort und der damit aufkommende Schmerz und die Trauer ein. Und jedesmal, wenn sie den Anstoß für die Suche nach ihm bekommen, scheitert dieser Wunsch aus unerklärlichen Gründen. Als eines Tages Beatrice ihren Mann mit voller Entschlossenheit überzeugt, ziehen sie schließlich los.
Somit setzen wir gemeinsam mit den beiden alten Menschen die Segeln – angepasst an ihre Geschwindigkeit in ein Abenteuer. Im Laufe dieser Reise begleiten unsere Helden neue Gesichter. Ein sächsischer Krieger, ein Waisenjunge sowie ein Ritter aus ihrer Generation. Die einfache Fahrt, die mit der Absicht, ihren Sohn zu besuchen beginnt, verwandelt sich sehr schnell in eine abenteuerliche und geheimnisvolle Reise. Die Fragezeichen im Kopf werfen bei allen der Helden verschiedene Situationen auf, womit unsere Neugier entsprechend hoch steigt. Das ebenso mit fantastischen Elementen geschriebene Buch enthält zudem einen Drachen, Riesen sowie Monster. Jede Anstrengung und jede Fortsetzung bringt überraschende und traurige Wahrheiten ans Licht. Der Spitzenautor schafft es, mit seinen Charakteren uns in Verwunderung zu setzen.
Ein hervorragendes zeitübergreifendes Werk, das insbesondere unabhängig von einer bestimmten Zielgruppe mit äußerster Vorsicht geschrieben wurde. In der Hoffnung, dass die traurige Vergangenheit sich nicht wiederholt und auch in der Zukunft nicht vorkommt, lasse ich den Leser, die Leserin mit diesem Buch alleine.